Die fortschreitende Digitalisierung wird gemeinhin als Fortschritt begriffen, welcher mehr oder weniger unaufhaltsam ist und die Maximierung von Gewinn und Glück verspricht. Ob eine bestimmte Veränderung beide Hoffnungen gleichzeitig einlösen kann oder ob eine Seite überwiegt und die andere sogar Schaden nimmt, muss im konkreten Einzelfall betrachtet werden.
Im Clip „30 vs 1 Dating App in Real Life“ des Channels Jubilee wird das sehr weit verbreitete System der Dating App experimentell wieder in die analoge Welt transferiert. Die Darstellung des digitalen Swipens (Wischen auf dem Touchscreen, nach links für Ablehnung, nach rechts für Zustimmung) im analogen Raum kann hierbei stellvertretend für eine Vielzahl zwischenmenschlicher Operationen stehen, etwa liken oder retweeten, deren Mehrwert vor dem Hintergrund des Ziels der Glücksmaximierung hinterfragt werden sollte und muss.
In Bereich der sozialen Medien verändern sich die Rahmenbedingungen unserer Kommunikation deutlich. Äußerungen bekommen in der Regel eine größere Reichweite und verbreiten sich mit höherer Geschwindigkeit. Ihre Sichtbarkeit und deren Dauer sind für direkt und indirekt Beteiligte deutlich erhöht. Neben diesen Erweiterungen kommt es gleichsam auch zu einer Reduktion. Die Komplexität zwischenmenschlicher Aktionen nimmt ab. Man liked oder liked eben nicht. Die schiere Menge an Feedbacks vermindert den Wert der einzelnen Rückmeldung und die Wahrnehmbarkeit der Folgen meiner Aktion ist deutlich herabgesetzt, wenn zwischen den Gesichtern zwei Bildschirme und ein Algorithmus liegen.
Diese Veränderungen und einige merkwürdige Gegenüberstellungen, wie virtuelle und reale Welt, digitaler und analoger Raum, täuschen jedoch darüber hinweg, dass es sich bei allem Liken, Swipen und Retweeten um zwischenmenschliche Interaktionen handelt, die für die menschliche Sozialstruktur seit jeher konstitutiv sind. Ich mag, was du hier gemacht hast, so sehr, dass ich es gerne anderen zeigen möchte oder es weitersagen werden. Wenn ich mich entscheiden sollte, ob ich dich in meiner unmittelbaren Bezugsgruppe haben will, dann entscheide ich mich für ja…
Auch die aus Sicht des Autors zutreffende Kritik daran, dass sich die negativen Phänomene Hate Speech und Shitstorm den moralischen und juristischen Regeln der analogen Welt scheinbar entziehen, gehört in den Kontext dieser Überlegungen.
Überall dem schwebt die zentrale Frage: Inwiefern löst die Digitalisierung im Bereich zwischenmenschlicher Interaktionen ihr Versprechen der Glücksmaximierung ein?
Kernkompetenz: Ethische Entscheidungssituationen im individuellen und gesellschaftlichen Leben wahrnehmen, die christliche Grundlegung von Werten und Normen verstehen und begründet handeln können.
Jahrgang: 7 – 12
Arbeitsformen: Filmarbeit, Diskussion, Rollenspiel, Videoproduktion, Bibelauslegung
Medien:
- Channel von Jubilee: link
- 30vs1 Swiping 30 Guys: link
- Extra 3 – Internet-Kommentare im realen Leben: link
Methodisches Vorgehen
Einstieg
Die Schülerinnen und Schüler können als Vorbereitung festhalten, welche kommunikativen Handlungen sie in den sozialen Medien, die Sie nutzen, vornehmen. Zur Aktivierung können einzelne Symbole, wie der Like-Button von Facebook oder das Teilen-Symbol visualisiert werden.
- Erstellt eine Liste, welche alle digitalen Handlungen beinhaltet, die ihr in den digitalen Medien zur Kommunikation nutzt.
Filmarbeit
Die Versuchsperson Anshul wird gebeten aus 30 Personen jene potentiell zu ihm Passenden (Matches) herauszusuchen. Der Unterschied zur Dating App liegt darin, dass sein Gegenüber auch leibhaftig vor ihm steht. Auf der einen Seite zeigt er sich im Interview der Idee des Onlinedatings sehr aufgeschlossen gegenüber, weil man mit einer gewissen Offenheit die Möglichkeit hat eine coole Person zu treffen. Auf der anderen Seite zeigt sich in vielen Aussagen und Regungen auch deutlich seine Anspannung bezogen auf den Vorgang des Auswählens durch das Swipen. Nachdem er auswählen durfte, entscheiden die Frauen, ob Sie ebenso entschieden hätten. Daran schließt sich ein 30minütiges Gespräch jeweils zu zweit an und zum Schluss hat Anshul die Aufgabe unter allen Frauen die finale Wahl zu treffen.
- Beschreibe das Experiment und vergleiche es mit der digitalen Version.
- Stelle Vermutungen dazu an, welche Gedanken und Gefühle bei den Beteiligten entstehen.
- Setze dich mit den folgenden Aussagen von Anshul auseinander:
- Das ist ein bisschen furchterregend /einschüchternd.
- Es ist merkwürdig. Es ist interessant, dass wir das die ganze Zeit tun und ich habe das bestimmt schon viele Male auf meinem Smartphone gemacht, aber es ist auf jeden Fall seltsam, wenn du das persönlich machst, du denkst, oh ich muss dir das jetzt sofort antun.
- Ich habe das Gefühl es unterscheidet sich deutlich vom Dating im realen Leben oder sogar vom Dating im Allgemeinen. Es ist…in der Regel braucht es viel länger, viel mehr Reden, viel mehr Verständigung, aber das war wie: Oh fertig in fünf Sekunden.
Mögliche Vertiefungsaufgabe zum Film:
- Vergleiche beide Varianten des Experiments miteinander und prüfe, ob sich daraus andere Perspektiven ergeben. (Link unter Medien)
Weitere mögliche Erarbeitungsschritte
Eigenes Experiment
- Findet euch in Kleingruppen zusammen und entwerft in Anlehnung an den Videoclip ein eigenes Experiment, welches eine digitale Handlung in den analogen Raum zurückholt.
- Führt das Experiment durch und wertet es aus.
- Bspw. zu: Liken, Retweeten, Teilen,
Videoproduktion
- Seht euch das Video „Internet-Kommentare im realen Leben | extra 3 | NDR“ auf YouTube an.
- Interpretiert die Satire und reflektiert die Bedeutung eurer Erkenntnisse für das gesellschaftliche Miteinander.
- Produziert ein eigenes Video, welches die Spannung zwischen dem Agieren im Internet und dem Agieren in der analogen Welt thematisiert.
- Bspw. zu: Shitstorm, Hate Speech
Analytische Auseinandersetzung
- Findet euch in Kleingruppen zusammen und erstellt gemeinsam eine Liste digitaler Handlungen. (siehe Vorbereitungsphase)
- Erstellt eine Tabelle, in welcher die digitale Handlung, Apps und Plattformen auf denen sie durchgeführt werden und ihre analogen Entsprechungen gegenübergestellt werden. (Bsp.: Like /Facebook, Instagram /Zustimmung zu einer Meinung, Lob für eine bestimmte Leistung/…)
- Analysiert, inwiefern sich digitale und analoge Handlung hinsichtlich der folgenden Kriterien unterscheiden:
- Reichweite, Geschwindigkeit, Dauer der Sichtbarkeit, Wert/Bedeutung, Komplexität der Handlung, Erkennbarkeit der Wirkung meiner Handlung
- Zeigt Konsequenzen eurer Analyse für das Miteinander auf individueller und gesellschaftlicher Ebene auf.
- Entwickelt Perspektiven für die Digitalisierung sozialer Interaktionen.
Theologische Deutung
Neben dem aus Genesis 1 abgeleiteten Würdebegriff erscheint es sinnvoll, die Rolle des Gesichts bzw. des Schauens in das Angesicht des Gegenübers aus biblischer Sicht zu bedenken. Im Experiment, aber auch in allen nachfolgenden Aufgaben und Überlegungen ist es zentral, dass dem Gegenüber ins Gesicht gesehen wird und sich die Interaktion dadurch fundamental ändert. Die angegebenen Bibeltexte sollen dabei nicht aus ihrem Kontext herausgelöst betrachtet werden, sondern gerade in ihrem Zusammenhang vor dem Hintergrund menschlicher Gemeinschaft erschlossen werden. Die Auseinandersetzung kann am Ende, aber auch an einer anderen geeigneten Stelle im Unterrichtsverlauf geschehen, etwa nach der Filmarbeit und vor der vertiefenden Aufgabe. Die Schlüsselfragen lauten: Welche Bedeutung hat das Schauen des Angesichts eines Gegenübers in der biblischen Tradition? Wie ist es zu beurteilen, dass uns die Digitalisierung im Bereich Social Media dieser Möglichkeit bei zentralen Interaktionen weitgehend beraubt?
Mögliche Bibeltexte:
Gen3,1ff (Verstecken vor dem Angesicht Gottes)
Gen45,1 – 5 (Josefs Brüder erschrecken sich vor seinem Angesicht)
Ex2,1ff (Berufung Moses und Verhüllung seines Angesichtes vor Gott)
Ex33,12ff (v.a. V20; Mose möchte Gott ansehen)
Hoheslied4,1 – 9; 8,10b (Da bin ich geworden in seinen Augen wie eine, die Frieden findet.)
Mt 17,1f (Die Verklärung Jesu)
1Kor13,12 (Hohelied der Liebe)
- …und ihre Stimmen kehrten zurück — 31. Oktober 2022
- Was im Leben zählt — 1. Mai 2022
- Dating 2.0 — Das digitale Geschäft mit der Liebe — 1. Januar 2022
Toller Beitrag — vielen Dank dafür, werde ich im neuen Schuljahr sicher einsetzen! — Gerade und insbesondere die erst ganz am Ende des Beitrags genannte Paulus-Stelle passt hervorragend, waren „Spiegel” damals doch etwas ganz anderes als heute, nämlich nicht ganz glatte und auch prinzipiell eher trübe Reflexionen hergebende Gegenstände — womit sie sehr eng an die digitalen Abbilder unserer selbst rücken?!
Vielleicht mit dem Inhalt vermittelbar ist das schöne Video zu „Beautiful People” von Ed Sheeran und Khalid: https://www.youtube.com/watch?v=mj0XInqZMHY
Mit Blick auf das Ende und die nicht zu unterschätzenden Gender-Aspekte würde ich evtl. sogar mit diesem Clip zu arbeiten vorziehen: https://www.youtube.com/watch?v=FouxYRtr3Ok (30vs1 — Swiping 30 Guys)