…und ihre Stimmen kehrten zurück

Der Kurz­film Stained Skin gibt einen Ein­blick in den mono­to­nen und anstren­gen­den Arbeits­all­tag der bei­den Tex­til­ar­bei­te­rin­nen Samy und Alba. Die Mono­to­nie ihrer Tätig­keit wird durch das Erzäh­len einer Geschich­te und deren kunst­vol­le Illus­tra­ti­on durch­bro­chen. Dabei wird unter ande­rem die Fra­ge auf­ge­wor­fen, wel­che Wir­kung eine Erzäh­lung auf die Lebens­rea­li­tät von Men­schen ent­fal­ten kann.

Ist die Geschich­te von Nana­mi, dem Mäd­chen am Grund des Oze­ans, ein Impuls für ech­te Ver­än­de­rung oder spen­det sie im schlimms­ten Fall bloß trü­ge­ri­sche Hoff­nung, wel­che zwar die Arbeits­kraft auf­recht­erhält, aber zu kei­ner sub­stan­ti­el­len Ver­bes­se­rung der Situa­ti­on von Samy und Alba führt?

Zwar Reden zu kön­nen und dabei doch kei­ne Stim­me zu haben. Waren zu pro­du­zie­ren, wel­che man sich selbst nicht leis­ten kann. Gera­de genug Ener­gie zu haben, um den Lebens­un­ter­halt ver­die­nen zu kön­nen, nicht aber, um an der Situa­ti­on etwas zu ver­än­dern. Das sind die Umstän­de unter denen vie­le Men­schen in unse­ren glo­ba­len Wert­schöp­fungs- und Ver­triebs­ket­ten arbei­ten müssen.

Was hilft jenen, die sich in die­ser Situa­ti­on wie­der­fin­den. Über die Arbeit mit dem Kurz­film Stained Skin las­sen sich die Beschäf­ti­gung mit der Wirk­mäch­tig­keit bild­haf­ter, auch reli­giö­ser Erzäh­lun­gen und die Aus­ein­an­der­set­zung mit dem The­men­kreis sozia­le Gerech­tig­keit (sie­he auch die 17 Zie­le für eine nach­hal­ti­ge Ent­wick­lung der UN ) sinn­voll mit­ein­an­der verquicken.

Kern­kom­pe­tenz: Grund­for­men bibli­scher Über­lie­fe­rung und reli­giö­ser Spra­che verstehen.

Jahr­gang: 9 – 12

Arbeits­for­men: Film­ana­ly­se, krea­ti­ves Schrei­ben, Rol­len­spiel, Referat

Medi­en:

  • Film: Link
  • Kurz­be­wer­tung von Stained Skin: Link
  • Bil­der­ga­le­rie Stained Skin mit down­load­ba­ren Screen­shots: Link
  • 17 Welt­nach­hal­tig­keits­zie­le: Link
  • Der Skan­dal um die „Radi­um Girls“ – Arte-Kurz­do­ku­men­ta­ti­on (Ach­tung, dar­ge­stell­te Krank­heits­bil­der kön­nen ver­stö­rend wir­ken): Link

Metho­di­sches Vorgehen

Die ein­zel­nen Bau­stei­ne kön­nen je nach the­ma­ti­scher Schwer­punkt­set­zung und kom­pe­tenz­ori­en­tier­ter Ziel­set­zung kom­bi­niert wer­den. Es erscheint denk­bar mit dem Sehen des Films ein­zu­stei­gen oder sich zunächst der Erzäh­lung zu wid­men. Auch könn­ten Impuls­re­fe­ra­te, etwa zu den The­men Arbeit­neh­mer­rech­te, Fast Fashion und der Wert­schöp­fungs­ket­te der Tex­til­in­dus­trie, der Beschäf­ti­gung mit dem Kurz­film vor­an­ge­stellt wer­den oder erst im Anschluss zur Ver­tie­fung ein­ge­setzt wer­den. Im Fol­gen­den wird eine Vari­an­te skizziert.

Ein­stieg

  • Die Geschich­te erzäh­len. Zu Beginn der Beschäf­ti­gung kann die Geschich­te des Mäd­chens Nana­mi, um die Rah­men­hand­lung berei­nigt, aus­drucks­stark vor­ge­le­sen werden. 
    • Eine Über­set­zung der Unter­ti­tel (mit dem Goog­le-Über­set­zer) ist unten an den Arti­kel angefügt.
  • Ers­ter Ein­druck. Die Schü­ler for­mu­lie­ren einen ers­ten Ein­druck. Fol­gen­de Hil­fe­stel­lun­gen kön­nen gege­ben werden: 
    • Mein ers­ter Ein­druck von der Geschich­te ist…
    • In der Geschich­te spie­geln sich für mich die The­men … wider.
    • Ich könn­te mir vor­stel­len, die­se Geschich­te einem ande­ren Men­schen in fol­gen­der Situa­ti­on /​mit fol­gen­der Absicht zu erzählen: …
  • Aus­tausch. Nach einem Aus­tausch im Ple­num wird der Kurz­film min­des­tens ein­mal gesehen.

Filmanalyse

  • Ver­gleich ers­ter und zwei­ter Ein­druck. Ver­glei­che dei­ne ers­ten Ein­drü­cke der Geschich­te mit jenen, wel­che du durch die Visua­li­sie­rung und Ein­bet­tung in die Rah­men­hand­lung bekom­men hast. (Hier­bei soll­te auch auf zen­tra­le Ele­men­te der Rah­men­hand­lung ein­ge­gan­gen wer­den. Dazu gehö­ren die letz­te Sze­ne, in wel­cher die Arbeit wird wie­der auf­ge­nom­men (07:46) und das Sto­cken der Erzäh­lung (04:13).
  • Film­ti­tel. Infor­mie­re dich über die ver­schie­de­nen nuan­cier­ten Bedeu­tun­gen, wel­che das Wort „stained“ im Eng­li­schen haben kann und deu­te den Titel des Kurz­films. (z.B. auf Leo​.org)
  • Bildsprache1. Erstel­le ein Netz zen­tra­ler Bil­der und Begrif­fe und deu­te die­se. Hier erschei­nen bei­spiels­wei­se die fol­gen­den Zusam­men­hän­ge interessant: 
    • Oze­an, Mee­res­grund, Tie­fe, schwarz und blau
    • Per­len, Klei­der, Tanzen
    • Stim­me, Stil­le, Ver­ein­ze­lung, Ruhe, Schreie, Gewalt
    • Licht, Leuch­ten, Schat­ten, Dunkelheit
  • Bildsprache2. Deu­te die Sze­nen­bil­der (sie­he Medi­en: Screen­shots). Prin­zi­pi­ell kön­nen durch das Pau­sie­ren des Films auch ande­re Bil­der gewählt wer­den, etwa die Ver­ein­ze­lung der Mäd­chen am Mee­res­grund, aber auch die Tex­til­ar­bei­te­rin­nen hin­ter dem Draht­git­ter der Roll­wa­gen erschei­nen geeignet.
  • Ver­gleich zwi­schen Rea­li­tät und Erzäh­lung. Set­ze die Geschich­te von Nana­mi mit der Situa­ti­on der bei­den Tex­til­ar­bei­te­rin­nen Samy und Alba in Beziehung.

  • Abschlie­ßen­de Dis­kus­si­on. Dis­ku­tiert mit­ein­an­der, wel­che Wir­kung die Geschich­te von Nana­mi für die bei­den Tex­til­ar­bei­te­rin­nen hat. Posi­tio­niert euch zur Fra­ge, ob die Geschich­te ech­te Hoff­nung oder nur bil­li­gen Trost spen­det kann.

Mög­li­che Auf­ga­ben zur Ver­tie­fung der Thematik

  • Inhalt­li­che Ver­tie­fung. Kurz­re­fe­ra­te zu ver­schie­de­nen his­to­ri­schen und aktu­el­len Fra­gen kön­nen gehal­ten wer­den, um den Dis­kus­sio­nen mehr Sub­stanz zu geben. Mög­li­che Refe­rats­the­men kön­nen sein: 
    • Fast Fashion und die Aus­beu­tung in der Wert­schöp­fungs­ket­te der Textilindustrie
    • Die „Radi­um Girls“ aus den USA: Ein his­to­ri­sches Beispiel
    • Geschich­te der Arbeit­neh­mer­rech­te – Gewerk­schaf­ten und Arbeitskampf
  • Dis­kus­si­on zu den Welt­nach­halt­lich­keits­zie­len. Recher­chie­re die 17 Nach­hal­tig­keits­zie­len der UN (sie­he Medi­en) und stel­le begrün­det fest, wel­che Zie­le im Kurz­film berührt wer­den. Dis­ku­tiert Maß­nah­men auf indi­vi­du­el­ler, gesell­schaft­li­cher und poli­ti­scher Ebe­ne, wel­che die wid­ri­gen Bedin­gun­gen der Arbei­te­rin­nen in der Tex­til­bran­che ver­bes­sern kön­nen. (Auch das soge­nann­te Lie­fer­ket­ten­ge­setz kann hier dis­ku­tiert werden.)
  • Aneig­nung über Krea­ti­ves Schrei­ben und Rol­len­spiel. Ent­wi­ckelt gemein­sam in einem Pro­zess des krea­ti­ven Schrei­bens eine eige­ne Geschich­te, wel­che sich auf ein selbst­ge­wähl­tes Pro­blem sozia­ler Gerech­tig­keit bezieht. Gestal­tet Illus­tra­tio­nen zu eurer Geschich­te. Ent­wi­ckelt ein Rol­len­spiel, wel­ches die Erzäh­lung eurer Geschich­te ein­rahmt. (Wich­tig erscheint hier, dass die i.d.R. kom­ple­xen Hin­ter­grün­de des Gerech­tig­keits­pro­blems aus­rei­chend recher­chiert sind.). Führt eure Rol­len­spie­le in der Klas­se auf und gebt euch gegen­sei­tig ein kon­struk­ti­ves, kri­te­ri­en­ge­stütz­tes Feedback.

Theo­lo­gi­sche und philosophische Deutungen

  • Karl Marx. Von Marx wird die Ent­frem­dung des Men­schen zu sei­ner Arbeit, zum Pro­dukt sei­ner Arbeit, zu sich selbst und den Mit­men­schen beschrie­ben. Die­se Kapi­ta­lis­mus­kri­tik lässt sich schlüs­sig auf das im Kurz­film gezeig­te Anwen­den und so auf ande­re Sach­ver­hal­te über­tra­gen. (z.B. in Kurs­buch Reli­gi­on Ober­stu­fe. Grund­le­gen­de Tex­te und Bil­der. Calwer/​Diesterweg, 2004. S. 181 „DER MENSCHSICH SELBST EIN FREMDER“)
  • Amos. Eine sehr bild­haf­te Kri­tik an den Herr­schern und den herr­schen­den Ver­hält­nis­sen fin­det sich auch beim Pro­phe­ten Amos, etwa in Amos4.
  • Gleich­nis­se Jesu: Ein direk­ter Bezug auf Arbeit­neh­mer­rech­te fin­det sich bei den Gleich­nis­sen Jesu zwar nicht, trotz­dem zie­len vie­le der Gleich­nis­se auf die Arbeits­rea­li­tät der Men­schen und die unglei­chen Ver­hält­nis­se zwi­schen Besit­zen­den und Besitz­lo­sen ab, etwa die Arbei­ter im Wein­berg (Mt20,1 – 16), der Schalks­knecht (Mt18,23 – 34) oder das Gleich­nis vom rei­chen Korn­bau­ern (Lk12,16 – 21). Eine geziel­te Inter­pre­ta­ti­on im Hin­blick auf die Arbeits­ver­hält­nis­se der Men­schen und die Mög­lich­kei­ten die­se zu ver­bes­sern, kann ein Ansatz­punkt zur Aktua­li­sie­rung der Gleich­nis­se Jesu sein.
  • Befrei­ungs­theo­lo­gie. Auch eine Beschäf­ti­gung mit befrei­ungs­theo­lo­gi­schen Ansät­zen erscheint hier möglich.

Eine Übersetzung der Geschichte vom Mädchen Nanami (ohne die Rahmenhandlung des Kurzfilms)

Geschich­te von einem Mäd­chen, das auf dem Mee­res­grund lebte.

Ihr Name war Nana­mi. Sie hat­te gro­ße Augen und krau­ses Haar. Aber sie war nur eines von vie­len Mäd­chen und sie muss­ten für die herr­schen­de Fami­lie arbei­ten. Sie muss­ten Per­len sam­meln und Sand sie­ben und Klei­der aus Algen nähen. Und um sie zu kon­trol­lie­ren, hat­ten die Herr­scher ihre Stim­men gestoh­len. Und der Oze­an wur­de still. Eines Nachts schlich sich Nana­mi an dem Wels vor­bei, der Wache stand, und sie schwamm an die Ober­flä­che. Und sie sah den Herr­schern beim Tan­zen zu, geklei­det in wun­der­schö­ne Korallenkleider.

Aber dann spür­te Nana­mi, wie etwas an ihrem Fuß zog. Und plötz­lich wur­de sie von einem rie­si­gen Okto­pus unter die Ober­flä­che gezo­gen. Sie ver­such­te, sich an allem fest­zu­hal­ten, was sie fin­den konn­te, aber ihre Hän­de fan­den nur eine klei­ne Muschel und der Okto­pus warf sie in eine win­zi­ge Zel­le, wo sie Per­len anein­an­der­rei­hen muss­te. Sie hat immer noch ihre klei­ne Muschel!

Und plötz­lich hört Nana­mi eine Stim­me… Hal­lo? Kannst du mich hören? Hilf mir! Der Wels schwimmt vor mei­ner Zelle.

Nana­mi fand her­aus, dass ihre Stim­men in den Muscheln auf­be­wahrt wur­den. Und als sie wie­der aus der Zel­le ent­las­sen wur­de, um zu arbei­ten, ver­such­te sie, die Muscheln zu sam­meln. Und nach und nach fin­gen die ande­ren Mäd­chen an, ihr zu hel­fen. Und als jedes Mäd­chen eine hat­te, öff­ne­ten sie die Muscheln und ihre Stim­men kehr­ten zurück. Und der Oze­an war erfüllt von ihren Schrei­en und das Schiff mit den Herr­schern begann zu schwan­ken und prall­te gegen einen Fel­sen. Alle Pas­sa­gie­re fie­len in den Sturm und ertran­ken. Und plötz­lich brach das Licht durch das Was­ser und alle Flü­che waren auf­ge­ho­ben. Also schwam­men sie alle an die Ober­flä­che. Aber die Außen­welt hat­te unter den hab­gie­ri­gen Herr­schern genau­so gelit­ten wie der Oze­an. Und der Oze­an war immer noch schwarz, nicht blau.

Die Mäd­chen aber haben über­lebt. Sie wur­den befreit. Und sie schwo­ren sich, nie wie­der eine ein­zi­ge Per­le anzufassen.

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Tobias Neumeister
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