Wer bin ich? Sie sagen mir oft, ich träte aus meiner Zelle gelassen und heiter und fest … Wer bin ich? Sie sagen mir auch, ich trüge die Tage des Unglücks gleichmütig lächelnd und stolz … Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen? Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?
Dietrich Bonhoeffer, 1944, in Gefangenschaft
Bonhoeffer schreib sein Gedicht 1944 in der Haftanstalt Berlin-Tegel. Es spiegelt die Fragen eines Menschen zwischen Selbst — und Fremdwahrnehmung und reflektiert die Suche nach Identität mit religiösen Konnotationen. Das ist 75 Jahre her. Das ist ein anderes politisches System. Das sind andere Zeitumstände. Das kann man nicht vergleichen. Und doch sind die Fragen Bonhoeffers auch die Fragen der Gegenwart: Wer bin ich? Wie will ich gesehen werden? Wer möchte ich sein? Bin ich mehr, als ich selbst von mir weiß?
Die Formulierung solcher und ähnlichen Fragen führt gegenwärtig fast zwangsläufig zu einer Auseinandersetzung mit den sozialen Netzwerken. Erwachsene sind bei Facebook oder Twitter. Heranwachsende und Jugendliche sind bei Instagram. Die Social-Media-Plattform Instagram ist dabei mehr als eine Foto-App. In der schulischen Auseinandersetzung bietet sich Gelegenheit, das eigene Nutzungsverhalten mit Distanz zu betrachten und in der Lerngruppe zu reflektieren. Weil Lehrkräfte in der Regel dabei außen vor sind, bieten sich philosophierende oder theologisierende Zugänge an. Eine Einführung in Aufbau und Funktion der Plattform muss nicht geleistet werden, weil der Umgang den Schülerinnen und Schülern vertraut ist oder sie sich selbst die notwendigen Kenntnisse beibringen können. Folgende Fragestellungen können im Kontext von Instagram erschlossen und diskutiert werden:
Ist ein Like ein Zeichen für Anerkennung? Bedeutet ein Kommentar Aufmerksamkeit? Wie gehören Anerkennung und gelingendes Leben zusammen? Wie zeige ich mich in der Öffentlichkeit und was gebe ich von mir preis? Wie real sind die Szenen und Stories auf Instagram? Wie gehören Wahrheit und Fiktion zusammen? Was ist Schönheit? Ist Instagram ein Filter für die Wirklichkeit?
Inhaltsverzeichnis
- Die Projektidee: Mehr als ich selbst von mir weiß
- Mehr als ich selbst von mir weiß
- Phase 1: Instagram ist …
- Phase 2: Untersucht die Kanäle bekannter Influencer …
- Phase 3: Kriterienkatalog prüfen
- Phase 4: Sich selbst beschreiben
- Phase 5: Sich inszenieren
- Phase 6: Würdigung und Feedback
- Phase 7: Meta-Reflexion
- Phase 8: Idee zum Theologisieren
Die Projektidee: Mehr als ich selbst von mir weiß
Der Filmclip nimmt einige dieser Fragen auf, bleibt aber impulsartig. Der Beitrag möchte vor allem die Frage nach Identität und Scham berücksichtigen.
Kernkompetenz: Den eigenen Glauben und die eigenen Erfahrungen wahrnehmen und zum Ausdruck bringen sowie vor dem Hintergrund christlicher und anderer religiöser Deutungen reflektieren.
Jahrgang: ab 8. Jahrgangsstufe
Arbeitsformen: Kahoot!, Mindmapping, Lerntagebuch, Instagram-Storie/Foto-Serie, Theologiesieren
Hintergrundinformationen:
Elternbriefe -> Hier ein Beispiel für Bloggen im Unterricht als Ideenvorlage
Instagram in der Schule: Wie können Lehrende von der Fotoplattform profitieren? -> https://www.saferinternet.at/news-detail/instagram-in-der-schule-wie-koennen-lehrende-von-der-fotoplattform-profitieren/
Hinweise für bessere Fotos -> https://handy.de/magazin/kunstvoll-fotografieren-mit-dem-handy/
Das Gedicht Bonhoeffers -> https://www.dietrich-bonhoeffer.net/predigttext/wer-bin-ich/
Influencer, die man kennen kann -> https://fivmagazine.de/mode-fashion-blogger-influencer-deutschland-food-reisen/
Mehr als ich selbst von mir weiß
Phase 1: Instagram ist …
- Bestimmt mithilfe der Kahoot! euer Vorwissen zu Instagram. Nutzt dafür dem Teammodus.
- Tauscht euch über eigene Erfahrungen mit Instagram aus. Entwicklt in Kleingruppen eine Mindmap und präsentiert euch die Ergebnisse der Gesprächsrunde gegenseitig.
Hier können auch Erfahrungen mit anderen Netzwerken einfließen.
Phase 2: Untersucht die Kanäle bekannter Influencer …
- Sammelt Vorschläge in der Lerngruppe, wie beispielsweise „Lisa und Lena”, „Shirin David”, „Lamiya Slimani”, „Dagi Bee”, „Felix” oder „california.89”. Entscheidet euch in Kleingruppen für jeweils eine Person.
- Beschreibe die Persönlichkeit, die sich dort zeigt.
- Erläutere die Momente von Realität und Inszenierung auf einzelnen Fotos.
- Gibt es Werbung? Wie wird sie integriert?
- Was zeigen die Bilder nicht? Sammelt eure Gedanken und Ideen in einem Kriterienkatalog.
Phase 3: Kriterienkatalog prüfen
- Beschreibt die Formen von Instagram-Wahrheiten, die der Film zeigt.
- Diskutiert die Glaubwürdigkeit der Szenen.
- Erläutert Zusammenhänge zwischen den Instagram-Szenen und dem Zitat aus Bonhoffers Gedicht aus dem Gefängnis.
Phase 4: Sich selbst beschreiben
- Erstellt in der Lerngruppe zwei Listen zur Beschreibung von inneren und äußeren Fähigkeiten, Eigenschaften, Merkmalen und Talenten, mit denen Menschen beschrieben werden können.
- Generiere mithilfe dieser Kriterienlisten ein Selbstporträit.
- Überprüfe im nächsten Schritt die Wahrheitsansprüche von Instagram-Profilen.
Phase 5: Sich inszenieren
- Bildet Fototeams (2−3 Personen).
- Inszeniert für jedes Teammitglied eine Fotosession, die die selbstbestimmten Kriterienlisten aufnimmt.
- Achtet darauf, dass sich sowohl innere als auch äußere Fähigkeiten, Eigenschaften, Merkmalen und Talente finden.
- Beratet euch gegenseitig in dieser Phase in bezug auf Location, Requisiten, Zubehör, Tätigkeiten, Kostüme, Körperhaltung, Interaktion mit anderen Menschen, Detailaufnahmen und eventuelle Nachbearbeitung durch Filter und Farben.
Beachtet die Drittel-Regel. - Präsentiere deine Ergebnisse in der Lerngruppe und verfasse dazu ein schriftliches Statement.
Phase 6: Würdigung und Feedback
Erarbeitet vor dem Start Feedbackregel und versucht eure Anerkennung auszudrücken. Die folgenden Hinweise können eine Anleitung sein.
- Klärt zu Beginn, ob ihr das Feedback schriftlich mithilfe der Kommentarfunktion teilen wollt oder sich das direkte Gespräch besser anfühlt.
- Bereitet die Sitzanordnung vor: Weniger frontal, besser im Kreis.
- Alle sprechen auf „Augenhöhe”, nicht von oben herab.
- Unterscheidet zwischen Person und Kunstwerk/bzw. inszenierten Fotos.
- Beschreibt eure Beobachtungen und die Wirkungen auf euch.
- Formuliert aus der Ich-Perspektive.
- Vermeidet Bewertungen wie „gut oder schlecht” und „richtig oder falsch”. Versucht diese Begriffe zu vermeiden.
- Die Empfänger versuchen das Feedback als Untertsützung zu hören und überlegen, ob und an welchen Stellen der Foto-Story sie weiter- oder nacharbeiten wollen.
Phase 7: Meta-Reflexion
- Tragt in der Lerngruppe zusammen, wo die Chancen von Fotos und Foto-Storys auf Instagram liegen.
- Erkläre, was Bilder zeigen und was sie verbergen.
- Erläutere die Rolle und Bedeutung, die die Fotografin oder der Fotograf einnehmen.
- Diskutiert, ob das Eingangszitat von Bonhoffer von 1944 überhaupt in Zusammenhang mit Insta-Stories von 2019 gedacht werden kann.
Das Zitat von Bonhoffer geht eigentlich noch weiter:
Wer bin ich? Sie sagen mir oft, ich träte aus meiner Zelle gelassen und heiter und fest …
Wer bin ich? Sie sagen mir auch, ich trüge die Tage des Unglücks gleichmütig lächelnd und stolz …
Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen? Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß? …
Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!
Phase 8: Idee zum Theologisieren
Ob Gott uns erkennt, in der Summe all unserer Fotos: Auf denen bei Instagram, in den gelöschten Aufnahmen, den Festplatten und Speicherkarten anderer Menschen und auf denen, die noch gar nicht gemacht wurden?
Ob Gott uns erkennt nach außen und nach innen?
Ob Gott uns an dem erkennt, was wir noch gar nicht von uns wissen?
- Formuliere eine eigene Position und halte sie schriftlich fest.
- Orientiert euch in der Lerngruppe mithilfe von Positionslinien.
- Diskutiert diese Fragen unnd Impulse durch Einbeziehung von Begründungszusammenhängen.
- Überarbeite deine Ideen aus dem ersten Schritt der Phase.
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2 Gedanken zu „Mehr als ich selbst von mir weiß“