Wenn Eltern ihre schulpflichtigen Kinder danach fragen, wie ihr Tag war, werden sie je nach Altersstufe eine mehr oder weniger ausführliche Antwort bekommen. Das Spektrum reicht mindestens von einer detaillierten Beschreibung des ganzen Tages bis zu einem durch ein Schulterzucken begleitetes „Ok“. Dass dieses Frageritual ganz entscheidend für die Beziehung zwischen Fragendem und Befragtem sein kann, ist eine der Pointen des inhaltlich und emotional herausfordernden Kurzfilms „HOW WAS YOUR DAY?“. In seinem Verlauf wird die zunehmende Distanz einer Mutter zu ihrer von körperlicher und geistiger Behinderung betroffenen Tochter bis zur existenziellen Bedrohung für beide gesteigert. Wer am Ende beide aus dieser Agonie rettet, ist eine der spannendsten Fragen, die aufgeworfen werden.
Würde man einen Zeitungsartikel über eine Mutter lesen, die ihr hilfloses, behindertes Kind in den Wellen zurücklässt, wäre der Schritt zur Verurteilung dieses mütterlichen Verhaltens sicher leichter, als beim Betrachten des vorliegenden Films. Eine bedrückende Sprachlosigkeit ist das äußerlich sichtbare Symptom des schwer deutbaren, inneren Kampfes der Mutter. Dem Betrachter wird selbst überlassen, inwiefern er in Scham, Schuld, verletzten Träumen, elterlichen Ambitionen, Mitgefühl oder gesellschaftlichen Konventionen Ursachen dieser Entwicklung sieht. Aufgrund dieser Deutungsoffenheit ermöglicht der Film eine Verknüpfung mit anthropologischen, ethischen und christologischen Fragestellungen.
Kernkompetenz: Über das evangelische Verständnis des Christentums Auskunft geben.
Jahrgang: 11 – 12 (unter Umständen auch 9 – 10)
Arbeitsformen: Analyse von Bibeltexten und Liedtexten; Diskussion in Kleingruppen und im Plenum, Theologisieren
Medien:
- Filmrezension: Link
- Erfahrungsbericht zum Thema Angst und Schuldgefühle einer Mutter mit behindertem Kind auf Zeit Online: Link
- Artikel zu Sünde im WiReLex: Link
- Luthers Sündenbegriff Incurvatus in se: Link
Vorbemerkungen
Der Film lässt sich in der gymnasialen Oberstufe im Bereich Christologie und auch im Rahmen anthropologischer Fragestellungen einsetzen. Im Folgenden wird das christologische Konzept verfolgt. Da im Film über weite Strecken eine äußerst destruktive Mutter-Kind-Beziehung gezeigt wird, sollte man insbesondere für einen eventuellen Einsatz in den Klassenstufen 9 und 10, aber auch allgemein genügend Raum für die Verarbeitung emotionaler Assoziationen lassen und den Inhalt des Films gegebenenfalls vorbesprechen, um ein emotionales Überrumpeln zu verhindern.
Methodisches Vorgehen
Einstieg
Zu Beginn der Beschäftigung wäre es denkbar mit der Lerngruppe eine Einschätzung darüber vorzunehmen, welches Fest aus christlicher Sicht bedeutsamer ist, Weihnachten oder Ostern, und über die Begründungen die vorhandenen Schülerdeutungen der jeweiligen biografischen Ereignisse im Leben Jesu zu verbalisieren.
- Diskutiert in Kleingruppen, welches Fest aus religiöser Sicht bedeutsamer ist: Weihnachten oder Ostern.
- Sammelt Argumente für die anschließende Diskussion der Frage im Plenum.
Es ist davon auszugehen, dass im Unterrichtsgespräch allerhand Vorstellungen rund um die Deutung des Kreuzestodes und die weihnachtliche Geburtsgeschichte als dessen Voraussetzung zur Sprache kommen. Geeignete Gesprächsimpulse könnten an dieser Stelle sein, ob Weihnachten letztlich nur die Voraussetzung für Ostern ist oder von sich aus schon einen rettenden (soteriologischen) Charakter besitzt und worin dieser liegt. Darauf fußend, kann die Weihnachtsgeschichte unter diesem Gesichtspunkt noch einmal gelesen werden.
- Prüft anhand der Textauszüge zur Geburt Jesu, ob sich schon aus seiner Geburt und den Geburtsumständen das Motiv der Rettung ableiten lässt.
Filmarbeit
Zur Vor- oder Nachbereitung des Films kann der Zeitartikel Geliebtes Angstmachkind gelesen werden, um das Verhalten der Mutter unter psychologischen und medizinischen Aspekten besser nachvollziehen zu können.
- Beschreibt die Gefühle der Mutter und deren Entwicklung mithilfe der folgenden Begriffe: Angst, Hoffnung, Schuld, Vergebung, Vertrauen, Misstrauen, Erfüllung, Verzweiflung, Irrweg und Rettung. (Weniger oder mehr Vorgaben je nach Lerngruppe denkbar)
Mögliche Beobachtungsaufgaben zum Film:
- Fasse die Handlung kurz zusammen.
- Beschreibe die Entwicklung der Mutter-Kind-Beziehung und belege deine Einschätzung mit Schlüsselszenen.
- Diskutiere in einer Kleingruppe, wer am Ende des Kurzfilms wen rettet.
- Verfasse einen inneren Monolog mit dem Titel „Das war meine Rettung“, welchen die Mutter in größerem zeitlichen Abstand zu den Ereignissen führt.
Theologische Deutung: Wie gelingt Beziehung?
Sünde wird alltagssprachlich oft als lasterhaftes Verhalten, als Verstoß gegen die 10 Gebote oder eben als Bruch mit geltenden Regeln und Konventionen verstanden, etwa als Verkehrssünde oder sogar als Abweichung vom strengen Diätplan. Um dieser Trivialisierung entgegenzuwirken kann man kann man sich dem Begriff etwa mit Luthers Sündenbegriff (Incurvatus in se) oder dem griechischen Wort Hamartia („Verfehlen in der Gottes‑, Menschen- und Selbstliebe“) nähern. So ließe sich die Situation mithilfe des Sündenbegriffs fernab moralischer Verurteilungen als Beziehungsstörung deuten. Als Informationsquelle (unter dem Punkt Medien angegebenen) für die Schülerinnen und Schüler sind hier etwa ein Lexikoneintrag, das Lutherzitat, oder weitere Quellen denkbar.
- Erläutere den Begriff der Sünde anhand der Texte aus christlicher Perspektive.
- Wende den christlichen Sündenbegriff auf den Kurzfilm an.
Christologie in Kirchenliedern
Am Ende der Geschichte der Mutter-Kind-Beziehung macht die Tochter etwas, das Kinder nun einmal gerne tun. Es malt für ihre Mutter ein Bild (11:35). Soweit nichts Besonderes. Es zeigt die beiden lachend, Hand in Hand unter freiem Himmel und wird von der Tochter mit den Worten „That’s me and you“ kommentiert. Zu etwas Außerordentlichem wird das Bild jedoch im Kontext der vorherigen Szene, welche die Flucht der Mutter und die versuchte Kindstötung zeigt. Hier scheint etwas auf, dass sich in der Tat als bedingungslose Liebe deuten lässt. Die Zeichnung der Tochter kann auf viele Arten gedeutet werden. Als Angebot, als Bitte, als Appell oder Hilferuf. In jedem Fall aber frei von Vorwurf und Anklage schafft es die Kinderzeichnung zur Mutter durchzudringen und die lähmende Beziehungslosigkeit aufzubrechen, so dass sich die Frage aufdrängt, ob hier eine Rettung oder der Beginn einer Heilung zu sehen ist. Und schließlich wird auch der Zuschauer nach einer beklemmenden Zuspitzung an dieser Stelle in gewisser Weise durch den positiven Umbruch der Beziehung erlöst.
Zur christologischen Vertiefung bietet sich die Arbeit mit traditionellen, christlichen Weihnachtsliedern an. Denkbar sind beispielsweise Ich steh an deiner Krippen hier oder Maria durch ein Dornwald ging. Das Aufgabenarrangement müsste dementsprechend angepasst werden.
Variante A: Ich steh an deiner Krippen hier
- Interpretiere das Kirchenlied im Hinblick auf seinen christologischen Gehalt.
- Setze die christologischen Aussagen mit dem Kurzfilm „HOW WAS YOUR DAY“ in Beziehung
Variante B: Maria durch ein Dornwald ging
- Deute das Bild/Symbol von den Dornen tragenden Rosen im Liedtext.
- Entwirf einen kurzen Rede-/Predigtimpuls, welcher das Bild/Symbol auf die Herausforderungen des Elternseins anwendet.
Und als Abschluss für beide Varianten:
- Erörtere die Behauptung, dass ein Kind die Welt retten kann.
Weiterer thematischer Anknüpfungspunkt
Anthropologie — Menschenbild, Würde und Inklusion: Ausgehend von der Perikope 1.Kor12 (Viele Gaben — ein Geist; Viele Glieder — ein Leib; Lutherbibel 2017) ließe sich die Frage debattieren, welches Charisma die Tochter im Film hat, welches Menschenbild den Problemen im Umgang mit Behinderung zugrunde liegt und welche Voraussetzungen für Inklusion gegeben sein müssen.
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Dankeschön für den tollen Beitrag, mit dem Film und den zahlreichen konstruktiven Ideen will und werde ich gerne hantieren! — Nur die konfessionelle Beschränkung finde ich etwas irritierend, kann jedenfalls nicht sehen, dass sich Gespräch und Weiterarbeit zu dem Material prinzipiell konfessionell verschieden entwickeln könnten. Berücksichtigung der wenigen zu dem „in se se curvatus”-Ansatz Luthers (habe ich in Dogmatik mitstudiert) hinzutretenden spezifisch katholischen Aspekte (Begrifflichkeiten und Differenzierungen, vgl. z.B. http://www.vatican.va/archive/DEU0035/_P6I.HTM) im Zusammenhang der Deutung der Sünde und dem Umgang damit könnte vielleicht sogar gewinnbringende, zumindest doch profilschärfende (was m.E. aber kein gutes Ziel wäre) Wirkung haben?