Der Shutdown schränkt das öffentliche und private Leben ein: Versammlungsfreiheit — eingeschränkt, Reisefreiheit — eingeschränkt, Religionsausübung — eingeschränkt. Bei so vielen Schranken muss zwangsläufig nach der Freiheit gefragt werden. Der Weg in die Beschränkung, in die Distanz, war einfach zu gehen. Die Rückkehr in die „Normalität” wird schwieriger. Optionen und Konsequenzen müssen vor jeder Entscheidung abgewogen und gewichtet werden. Da braucht es Gespräch und Transparenz, wissenschaftlichen Rat, politischen Entscheidungswillen und Wertebewusstsein. Denn immer geht es um die Gesundheit und das Leben vieler Menschen.
Angesichts der massiven Einschränkungen von Grundrechten in der Corona-Krise hat Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble am vergangenen Sonntag (26. April 2020) im Tagesspiegel davor gewarnt, das Grundrecht auf Leben höher zu bewerten als andere Grundrechte. Ein Anlass, um aus weltanschaulicher Perspektive auf die Werte hinter den Diskussionen und in den politischen Entscheidungen zu schauen.
Kernkompetenz: Ethische Entscheidungssituationen im individuellen und gesellschaftlichen Leben wahrnehmen, die christliche Grundlegung von Werten und Normen verstehen und begründet handeln können.
Jahrgang: ab Jahrgang 9
Arbeitsformen:
Hintergrundinformation:
Über Wolfgang Schäuble: https://de.wikipedia.org/wiki/Wolfgang_Sch%C3%A4uble
Das Interview mit Wolfgang Schäuble: https://www.tagesspiegel.de/politik/bundestagspraesident-zur-corona-krise-schaeuble-will-dem-schutz-des-lebens-nicht-alles-unterordnen/25770466.html
Deontologische Ethik (Pflichtenethik) -> https://zellux.net/m.php?sid=65
Utilitaristische Ethik (Konsequentialistische Ethik) -> https://zellux.net/m.php?sid=66&q=utilitarismus
Diskursethische Überlegungen -> https://de.wikipedia.org/wiki/Diskursethik
Phase 0: Anmoderation
Die Diskussionen um die richtige Strategie zum Ausstieg aus dem Shutdown oder den richtigen Weg für eine Rückkehr in die Normalität sind komplex und unübersichtlich.
Jeder Mensch hat dazu vermutlich eine eigene, mehr oder weniger deutliche Meinung oder Position. Nicht immer kann sie klar begründet und erläutert werden. Im Religionsunterricht soll der Prozess der Urteilsfindung reflektiert, Sachargumente ausgetauscht, ethische und anthropologische Kriterien herangezogen, unterschiedliche Perspektiven bedacht und Konsequenzen erörtert werden.
Heinz Eduard Tödt hat 1977 ein Konzept vorgelegt, das den Prozess der Strukturierung und Klärung unterstützen soll. In der ersten Phase bietet es eine erste ethische Orientierung. Später muss es, auf meta-reflexiver Ebene, kritisch geprüft werden, u.a. hinsichtlich gegegnwärtiger Ausweitungen von Globalisierung, Pandemie, Digitalisierung, sozialer Netzwerke, Medienethik etc.. Tödt schlägt für die Strukturierung komplexer Sachverhalte und zur Reduktion auf elementare Fragen folgende Schritte vor:
- Problemfeststellung -> Herausarbeiten des übergreifenden Problems eines konkreten Falles, der ein begründetes ethisches Urteil fordert
- Situationsanalyse -> Erschließen des Kontextes des Problems und der damit verbundenen Auswirkungen
- Entwicklung potentieller oder möglicher Verhaltensalternativen
- Selbstvergewisserung der eigenen Normen -> Klärung der Kriterien, die zur Entscheidungsfindung herangezogen werden
- Urteilsentscheid -> Synthese der vorangegangenen Schritte
- Adäquanzkontrolle -> Prüfung der Angemessenheit des Urteils, Berücksichtigung weiterer Faktoren
Mithilfe des Tödtschen Konzeptes sollen die Diskussionen um die Lockerungen der Corona-Krise unter weltanschaulicher Perspektive in den Blick genommen werden.
Die Rolle der Schülerinnen und Schüler: Du trägst politische Verantwortung für Deine Stadt oder Deinen Landkreis. Du sollst Deine Bürgermeisterin oder Deine Landrätin bei ihrer Entscheidung unterstützen. Dazu musst du dir ein eigenes begründetes und belastbares Urteil bilden und zwar in komplexer, multiperspektivischer Hinsicht.
Phase 1: Problemfeststellung
Ab dem 4. Mai 2020 sollen schrittweise Lockerungen für das private, gesellschaftliche und öffentliche Leben in Deiner Stadt oder Deinem Landkreis vorgenommen werden. Du bist im Gespräch mit den Amtsärzten, den Leitungen der Kitas und Schulen, den Inhaberinnen und Inhabern kleiner und mittlerer Unternehmen und Geschäfte. Du hast Kontakte zu Eltern, die im HomeOffice oder in Kurzarbeit sind. Du hast dich mit dem Imam getroffen und mit dem Pfarrer der katholischen Gemeinde und der evangelischen Pastorin telefoniert. Und Du warst selbst im Pflegeheim Deines Ortes, hast Dir die Überlegungen der Pflegekräfte angehört und mit den ambulanten Pflegedienstleistern telefoniert. Du hast freundlich zugehört und die unterschiedlichen Bedürfnisse und Wünsche notiert. Noch ist nichts entscheiden.
- Aus dem Bauch heraus: Diese Lockerungen würdest Du unterstützen … Bei diesen Entscheidungen bist Du unsicher … Diese Schritte würdest Du ablehnen … Halte deine Entscheidung und die Urteilsbegründung in einem Lernlogbuch fest.
- Notiere in einer Mindmap die unterschiedlichen Bedürfnisse und Wünsche der beteiligten Gruppen. Ergänze die Aufzählung.
- Diskutiere deine Überlegungen in einer Kleingruppe (je nach Unterrichtssituation fernmündlich oder in Kleingruppen).
- Sichert die unterschiedlichen Entscheidungen, Positionen und Begründungen in einem gemeinsamen Dokument (z.B. Etherpad)
- Ändert sich dein erstes Urteil, wenn Du Dich als Beraterin des Bürgermeisters oder der Landrätin äußerst? Notieren deine Gedanken und Überlegungen.
- Stellt die Ideen der Lerngruppe mithilfe einer Positionslinie vor. Tauscht euch aus.
- Formuliert das ethische Problem möglichst klar und sichert das Ergebnis im Lernlogbuch.
Phase 2: Situationsanalyse
Sonntagabend, 20:00 Uhr. Du siehst die folgenden Nachrichten im TV. Bundespräsident Wolfgang Schäuble wird zitiert:
„Man tastet sich da ran. Lieber vorsichtig — denn der Weg zurück würde fürchterlich. Aber wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. Grundrechte beschränken sich gegenseitig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.”
- Nimm den Filmausschnitt (00:00 — 03:04) zur Kenntnis.
- Fasse den Nachrichtenverlauf mit eigenen Worten zusammen.
- Gib das Zitat Schäubles mit eigenen Worten wieder.
- Vergleiche Deine Wiedergabe mit dem Text des Interviews.
- Formuliere Deine eigene Position und halte die Wahrnehmungen und Überlegungen schriftlich im Logbuch fest.
- Tragt in einem gemeinsamen Dokument zusammen, wie sich die Lockerungen auf das Verhältnis zwischen den einzelnen Grundrechten auswirkt.
- Prüft gemeinsam, ob die Bedürfnisse aller Gruppen gleichermaßen berücksichtigt worden sind.
Phase 3: Verhaltensalternativen entwickeln
- Tragt in der Lerngruppe die Möglichkeiten zusammen, die im Filmausschnitt duch Vertreterinnen und Vertreter der Politik vorgetragen und die von Passanten benannt werden.
- Haltet die Ergebnisse im Lerntagebuch schriftlich fest.
- Informiert euch zu deontologischen, utilitaristischen und diskursethischen Kriterien und Argumentationsmustern.
- Ordnet einzelne Lockerungsvorschläge und Restriktionsmahnungen den philosophischen Modellen zu.
- Tauscht euch darüber aus, ob das „Recht auf Leben” gleichwertig neben anderen Grundrechten steht oder ob ihm eine besondere Bedeutung zukommt und welche Rolle der medialen Diskussion zukommt.
Externe Einschätzung
Ich würde sagen: Das war nur wenig Kant (=allein Art. 1 GG Menschenwürde soll als absolut uneinschränkbar in Geltung stehen) mit ziemlich viel utilitaristischer Ergänzung: die Folgenabschätzung wird breiter, tiefer und differenzierter. Strenge Kantianer lehnen ja jede „Folgenabschätzung” ab, auf so etwas wie „Folgen” zu schielen, schmälert ja für Kantianer die Autonomie und Plausibilität der Gebotsbefolgung. Ich halte ja viel von Kant, doch an dieser Stelle merke ich immer, dass mir diese abstrakte Strenge ideologisch und lebensfeindlich vorkommt. Ich finde das Votum Schäubles sehr bedenkenswert. Entscheidend ist freilich, was unter der „utilitas”, dem Nutzen genau verstanden wird. Hier gibt es vermutlich in unserer Gesellschaft eine schiefe Ebene, viele verstehen „Nutzen” wohl vor allem ökonomisch (Bruttosozialprodukt). Ich würde utilitas weiter fassen: Dass Gottesdienste auch wieder in leiblicher Anwesenheit — sicher mit Hygiene-Auflagen — gefeiert werden können, dass Kinder wieder in den Kindergarten können oder in die Schule, nicht nur, um was zu lernen, sondern auch zur Minimierung ihrer Einsamkeit und häuslichen Frusterfahrungen, dass Depressionen nicht noch befördert werden sollten — all das halte ich für einen wichtigen „Nutzen” und die Abwägung dieses ‑prognostizierten — „Nutzens” dringend geboten. Ich denke sogar, dass man diese Abwägung auch kantianisch nachvollziehen kann: Weil nicht nur das Recht auf Leben sehr hoch hängt, sondern auch das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, das Recht auf Freizügigkeit, das Recht auf Unantastbarkeit der Privatsphäre und das Recht auf freie Religionsausübung, sind wir als verpflichtet, hier Abwägungen vorzunehmen: Alles unter dem „Dach” von Art. 1 GG. Als Christ gelingt diese Abwägung vielleicht leichter, weil im Glauben jedes Recht nicht absolut gilt, sondern immer eingebunden ist in ein soziales Verhältnis zu Gott, zum Nächsten und zu mir selbst. Die ideologische Härte der gesellschaftlichen Debatten bei solchen Fragen kommt m. E. daher, dass Menschen ohne letzte Bindung und Verantwortung vor Gott schnell dazu neigen, sich selbst und ihre partiellen Interessen absolut zu setzen und gegen Andere in Stellung zu bringen …”
Schulpfarrer Dr. André Demut, Gera
- Erkläre, was André Demut unter den „utilitas” versteht und in welche Verhältnisse er sie einordnet.
- Erläutere die Bedeutung der Folgenabschätzung, wie sie André Demut im Interview beschreibt.
- Diskutiert in der Lerngruppe, inwiefern man seinen Überlegungen zustimmen kann, auch wenn man nicht an Gott glaubt. Haltet wichtige Überlegungen im gemeinamen Dokument fest.
- Klärt in diesem Zusammenhang die Bedeutung des Minderheitenschutzes (Alter, Herkunft, sexuelle Orientierung, Religion und Weltanschauung) für das politische System und sichert die Ergebnisse.
Phase 4: Selbstvergewisserung der eigenen Normen
-
Das Grundrecht auf Leben ist höher zu bewerten als andere Grundrechte: Ja < — > Nein. Ich meine dazu …
- Bestimme vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Argumentationenmodelle einen weiteren Vorschlag für eine Lockerung oder Beibehaltung der Einschränkungen.
- Formuliere eine schriftliche Begründung für dich selbst.
Phase 5: Urteilsentscheid
- Präsentiere Deine Entscheidungen für Lockerung oder Beibehaltung der Einschränkungen in der Gruppe.
- Nimm die Ergebnisse der Lerngruppe zur Kenntnis.
- Formuliert beratende Mehrheitsvoten für die Landrätin oder den Bürgermeister.
Phase 6: Adäquanzkontrolle
- Gleicht eure Überlegungen mit dem Fortgang der politischen Diskussion und den anstehenden Entscheidungen der Corona-Krise ab.
- Ordnet die medial vorgetragenen Argumentationen den ethischen Orientierungsmustern zu.
Medienethische Diskussion
- Prüft, inwiefern sich Diskussionen zu Lockerungen oder Beibehaltung der Einschränkungen in Zeitungen, öffentlich-rechtlichen Sendern und sozialen Netzwerken unterscheiden.
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1 Gedanke zu „Die Würde ist unantastbar — das Leben nicht“